Schluss mit der Quälerei

Es reichte. Es reichte wirklich.

Seit Stunden saß ich über dem einfachen Protokoll und kriegte so gut wie nichts gebacken. Meine anfängliche Freude war einer Mischung aus Frust, Ärger und Selbstvorwürfen gewichen.

Dabei hatte ich mich noch kurz zuvor innerlich über den Protokollführer der letzten Verkaufsleiter-Sitzung amüsiert, der in meinen Augen ein unübersichtliches, inhaltlich schwaches und optisch wenig ansprechendes Dokument abgeliefert hatte. Das konnte ich natürlich viel besser. Ich würde in jeder Hinsicht das perfekte Protokoll abliefern!

Ein Blick in den Papierkorb mit mittlerweile vielen zerknüllten Entwürfen zeigte mir aber mehr als deutlich, dass ich von diesem Ziel noch meilenweit entfernt war. Instinktiv tat ich in diesem Moment das Richtige: Ich stellte die Arbeit ein. Einfach so. Keinen Bock mehr.

Später am Abend kreisten die Gedanken natürlich noch immer um meinen „Null-Auftritt“. Dabei fiel mir auf, dass ich auch in anderen Bereichen schon ähnliche Erlebnisse hatte. Alles musste irgendwie immer zu 100% gelingen. Vom Büro aufräumen über das Ehrenamt als Schatzmeister im Sportverein bis zur Checkliste für das Grillfest im Garten – meine Ansprüche an mich waren extrem hoch. Jeder kleine Fehler und jede kleine Unachtsamkeit waren eine persönliche Niederlage. Aus heutiger Sicht kann ich nur schmunzelnd sagen: Was für ein Unsinn!

 

Sehen Sie das Positive

An diesem Abend traf ich eine für mich bedeutsame Entscheidung: Ich nahm Abschied. Abschied vom Perfektionismus. Abschied von 100%, aber gleichzeitig auch Abschied von vielen negativen Denk- und Betrachtungsweisen.

Letzteres will ich an einem kleinen Beispiel verdeutlichen:

In meinen Seminaren schreibe ich folgende fünf Rechenaufgaben an die Flipchart:

  • 3 + 6 = 9
  • 4 + 4 = 8
  • 2 + 6 = 7
  • 5 – 3 = 2
  • 6 : 2 = 3

Dann kommt meine Frage: „Was fällt Ihnen auf?“

Die Finger schnellen in die Luft und 96% der Seminarteilnehmer rufen: „Aufgabe 3 ist falsch!!“

Völlig richtig.

Man kann den Aufgabenkomplex aber auch von einer anderen Seite betrachten: Von 5 Aufgaben sind 4 Aufgaben richtig! Das sind immerhin 80%!

Worauf ich hinaus will: Wenn Sie Ihre Aufgaben zu 80% gut erledigen, dann ist dieses Ergebnis doch kein Totalschaden! Sie müssen jetzt nicht verzweifelt versuchen, die fehlenden Prozente durch immense Anstrengungen noch reinzuholen. Ich versichere Ihnen: Wenn überhaupt, wird Ihre Arbeit trotz großem Aufwand im Ergebnis nur geringfügig besser.

Statt „Was bin ich bloß für ein Blinder“ sagen Sie zu sich: „Ok, das war jetzt nicht meine beste Arbeit, aber ich habe sie in angemessener Zeit und mit angemessenem Aufwand gut erledigt!“

So wird ein Schuh draus, mit dem Sie richtig gut leben können.

Mein persönliches Fazit

Oben beschriebener Abend liegt jetzt schon einige Jahre zurück. Und Sie glauben gar nicht, wie gut es mir seitdem geht. Irgendwo liegt mein Level jetzt gefühlt so bei 90%. Die restlichen 10%, die das Ganze ja angeblich „perfekt abrunden“, interessieren mich nicht mehr.

Diese „i-Tüpfelchen“ haben mich jede Menge Zeit und Nerven gekostet mit dem Ergebnis, dass die Erfüllung meiner Aufgaben in vielen Fällen schlechter war als wenn ich sie entspannt, gelassen und mit einer klaren Ziel- und Zeitvorgabe angegangen wäre.

So habe ich mir auch vollkommen abgewöhnt, jeden Vorgang nach Abschluss noch zwanzigmal zu checken, ob sich nicht doch noch irgendwo ein Micro-Fehler versteckt hat.

Von Oliver Samwer, einer der Gründer von „Zalando“, ist bekannt, dass er jeden geschäftlichen Vorgang nur einmal in die Hand nimmt. Nach Überprüfung und Bewertung ist dieser von A-Z für ihn abgeschlossen und geht in die entsprechende Veranlassung. Auch eine Rundmail in die einzelnen Abteilungen seiner Firmen hämmert er ohne Rücksicht auf Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung in die Tastatur und drückt am Ende sofort auf „Senden“, ohne auch nur noch einmal auf den Text zu gucken. Zwar müssen seine Mitarbeiter teilweise raten, welche Inhalte sich denn nun hinter den teilweise auftretenden Hieroglyphen verbergen, die Zeitersparnis für ihn ist allerdings enorm.

Mein Tipp: Geben Sie immer Ihr Bestes, aber tappen Sie nicht in die „Perfektions-Falle“. Dann bleiben Ihnen Erlebnisse, wie oben beschrieben, erspart.

 

 

Herzlichst

Ihr Joachim Lenz

 

Bildnachweis: (c) fotolia 2017

Ein Abschied, der nicht weh tat